Zum „Wildern“ in fremden Fachgebieten
Seit Jahren schwelt in der Ärzteschaft die Auseinandersetzung über die Abgrenzung der Fachgebiete. Darf ein Facharzt für Dermatologie plastische Operationen, Liposuktionen und / oder Brustoperationen anbieten? Darf sich ein Facharzt für Gynäkologie der ästhetischen Medizin widmen und Faltenbehandlungen im Gesichtsbereich vornehmen? Welchen Einschränkungen unterliegt der Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, der sich auf plastische Operationen spezialisiert hat, gegebenenfalls auch außerhalb des Kopf- und Halsbereichs?
Bislang war die Rechtslage hier eindeutig. Die Berufsordnungen der Landesärztekammern sowie die Weiterbildungsordnungen und die Heilberufe- und Kammergesetze der Länder sehen strikte Regelungen vor. Danach ist der Arzt auf die Grenzen seines Fachgebietes festgelegt, wie dieses in der Weiterbildungsordnung des jeweiligen Bundeslandes definiert wird. Nur in seinem Fachgebiet darf er ärztlich tätig werden, fachfremde Tätigkeiten können als berufsrechtlicher Verstoß geahndet werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu in einer Grundsatzentscheidung (AZ: 1 BVR 2383/10) Stellung genommen und die Festlegung des Arztes auf das Fachgebiet erheblich relativiert. Gegenstand des Verfahrens war die Klage eines Facharztes für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, der als approbierter Arzt und Zahnarzt in seiner Praxis und in einer Klinik Schönheitsoperationen durchführte, wobei er sich nicht auf den Mund-Kiefer- Gesichtsbereich beschränkte. Vielmehr wurden auch Brustimplantationen und Bauch- und Oberarmstraffungen von ihm durchgeführt.
Während die zuständige Landesärztekammer sowie die Instanzgerichte hierin einen Verstoß gegen Berufsrecht sahen, geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die Festlegung auf die Fachgebietsgrenzen eine unverhältnismäßige Einschränkung der Berufsausübungsfreiheit des Arztes darstellt und damit gegen das Grundrecht auf Berufsausübungsfreiheit verstößt..
Die Beschränkung des Arztes auf sein Fachgebiet dient vorrangig dem Ziel des Erhalts der besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten des Facharztes auf seinem Gebiet. Ein Facharzt, der nur auf seinem Fachgebiet tätig ist, hat durch diese spezialisierte Tätigkeit in besonderem Maße die Möglichkeit, seine fachärztlichen Fähigkeiten durch ständige Übung weiter zu schulen und seine Fachkenntnisse zu aktualisieren. Das generelle Verbot fachfremder Tätigkeit ist aber nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts nicht erforderlich, um den durch die Facharztausbildung erreichten Leistungsstandard dauerhaft zu gewährleisten. Wie das Bundesverfassungsgericht zutreffend feststellt, ist nicht nachvollziehbar, warum sich die Fähigkeiten und Kenntnisse auf dem Gebiet der fachärztlichen Tätigkeit durch eine weitere, fachfremde Tätigkeit, die in einem nur sehr geringen Umfang ausgeübt wird, verschlechtern sollten. Es ist davon auszugehen, dass die Schulung der das jeweilige Facharztgebiet betreffenden Fähigkeiten bereits dadurch erreicht wird, dass die fachärztliche Tätigkeit den deutlichüberwiegenden Umfang der Gesamttätigkeit ausmacht. Wäre es anders, müsste die Beschränkung ausnahmslos gelten, woraus sich Wertungswidersprüche im Verhältnis zu Ärzten mit mehreren Facharztbezeichnungen oder Medizinern, die nur in Teilzeit tätig sind, ergeben würden. Auch stellt sich die Frage, welche Leistungen Ärzte ohneFacharzttitel noch erbringen dürften, dies vor dem Hintergrund, dass die fachärztlichen Bereiche das Spektrum ärztlicher Tätigkeit inzwischen weitgehend abdecken.
Andere Gemeinwohlbelange, die es rechtfertigen, eine in ihrem Umfang untergeordnete fachfremde Tätigkeit zu verbieten und deren Ausübung zu sanktionieren, sind nach den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts nicht ersichtlich. Insbesondere erfordert der Patientenschutz keine Einschränkung auf das Fachgebiet. Die Qualität ärztlicher Tätigkeit wird durch die Approbation sichergestellt. Die Approbation eröffnet nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts dem Arzt die Möglichkeit, grundsätzlich sämtliche ärztliche Tätigkeiten auszuüben, sofern er über die notwendigen Fähigkeiten, Erfahrung und Ausstattung verfügt, um diese gemäß den Regeln der ärztlichen Kunst zu gewährleisten. Die Prüfung dieser Voraussetzungen obliegt dem jeweiligen Arzt im Einzelfall. Vorbehaltlich dieser Prüfung ist er berechtigt, Patienten auf allen Gebieten, die von der Approbation als Arzt umfasst sind, zu behandeln. In einem Punkt ist das Bundesverfassungsgericht deutlich: der Schutz vor Konkurrenz ist kein Zweck, der eine Beschränkung auf das Fachgebiet erlaubt. Ein verstärkter Wettbewerb gerade in der ästhetischen Medizin über die Fachgrenzen hinweg wird daher nach dieser Entscheidung nicht ausbleiben.
Einschränkend stellt das Bundesverfassungsgericht jedoch fest, dass es bei der Frage nach der Zulässigkeit der fachfremden Tätigkeit eine Rolle spielt, in welchem Umfang sie ausgeübt wird. Offen bleibt die Frage, wo die Grenze zu ziehen ist. Ein Anteil von bis zu 5 % fachfremder Tätigkeit wird vom Bundesverfassungsgericht jedenfalls als unschädlich angesehen. In Hinblick auf den Zweck des Erhalts der speziellen Kenntnisse im eigenen Fachgebiet dürfte der Rahmen aber erheblich weiter zu ziehen sein.
Unter werbe- und wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunkten ist ergänzend zu beachten, dass durch den fachgebietsfremden Arzt im Rahmen seiner Außendarstellung nicht der irreführende Eindruck erweckt werden darf, er verfüge über die entsprechende fachärztliche Qualifikation nach der Weiterbildungsordnung. Alleine aus der Tätigkeit im fremden Fachgebiet lässt sich jedoch nicht auf eine Irreführung über den Facharzttitel schließen, sprich, alleine die Tatsache, dass ein Arzt Bauchstraffungen und Brustoperationen durchführt, lässt den durchschnittlich gebildeten Patienten nicht darauf schließen, dass er hierfür auch besonders geeignet ist. Da die Maßstäbe für eine Verwechslungsgefahr, insbesondere im Bereich der plastisch-ästhetischen Operationen, von den zuständigen Stellen weiterhin sehr unterschiedlich angelegt wird, bleibt diese Fragestellung spannend.
Keine Auswirkungen hat die Entscheidung auf den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherungen. Die im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung vorgegebene Beschränkung des Arztes auf seine Fachgebietsgrenzen bleibt von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unberührt. Festzuhalten bleibt: Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist das Verbot des „Wilderns“ in fremden Fachgebieten nicht gefallen, wurde jedoch erheblich eingeschränkt. Die Fachgebietsgrenzen werden nicht generell aufgehoben, sondern relativiert. Es besteht weiterhin das Gebot, schwerpunktmäßig im eigenen Fachgebiet tätig zu werden und ausschließlich solche Leistungen zu erbringen, für die – unabhängig von formalen Qualifikationen – der Facharztstandart gewährleistet werden kann. Abgesehen davon ist im Rahmen der Patientenwerbung jegliche Irreführung über die Qualifikation des Arztes auszuschließen. Werden diese Voraussetzungen eingehalten, stellen die Fachgebietsgrenzen nach der Weiterbildungsordnung zukünftig jedoch keine Barriere mehr für die Entfaltung des eigenen Leistungsspektrums dar.
Verfasser:
Dr. jur. Gwendolyn Gemke
Rechtsanwältin, Fachanwältin für Medizinrecht
Sozietät Hartmannsgruber Gemke Argyrakis & Partner
Rechtsanwälte
August-Exter-Straße 4, 81245 München
Tel. 089/8299560
Fax 089/82995626
www.med-recht.de