Originalie
Dirk Brandl, Volker Schrader
Die Rahmenbedingungen 6: über den Tellerrand hinaus
The frame conditions 6: beyond one’s own nose
Keywords | Summary | Correspondence | Literature
Keywords
network theory, paradigm change aesthetics, process oriented aesthetics, system theory
Schlüsselworte
Netzwerktheorie, Paradigmenwechsel Ästhetik, Prozessorientierte Ästhetik, Systemtheorie
Summary
Since its beginning exists a cross-fertilizing link between aesthetic medicine and other faculties. Aesthetics were responsible for the integration of superficial treatment options of elder patients into antiaging therapies, in contrary many other faculties have influenced the development of aesthetic medicine as well. Future developments will not change this cross-link. Since the beginning of the last century the model of science theory and philosophy is in a process of revolutionary changes caused by new findings in physics and biology, and nowadays this development has already touched medicine. These new findings cannot be explained by using the old model of science theory.Topic of this article will be the opportunities that can be offered to aesthetics by the new scientific paradigm.
Zusammenfassung
Es hat schon immer einen befruchtenden Austausch zwischen der Ästhetik und den anderen Fachgruppen gegeben. Ästhetische Medizin war verantwortlich für die Einbeziehung des äußeren Erscheinungsbildes alter Menschen in die Anti Aging Medizin, die anderen Fachdisziplinen aber haben auch die Entwicklung der Ästhetik stark beeinflusst. Dies wird auch in Zukunft so bleiben. Seit Beginn des letzten Jahrhunderts ist die ganze Wissenschaftstheorie und -philosophie im Umbruch durch neue Erkenntnisse in der Physik und Biologie, die nicht mehr mit den herkömmlichen Erklärungsmodellen erfasst werden können, und diese Entwicklung hat die Medizin längst erreicht. Welche Möglichkeiten das neue Wissenschaftsparadigma der ästhetischen Medizin bietet, soll Gegenstand dieses Artikels sein.
Kontroversen in der ästhetischen Medizin
Dirk Brandl 1 und Volker Schrader 2
1 Dipl-Ing., Sprecher Globalhealth Academy for Aesthetic Medicine
2 Dipl.-Päd., Psychologe und Berater Globalhealth Academy for Aesthetic Medicine
Historischer Rückblick in die Ästhetik
Die Ästhetik hat in der Vergangenheit neue Erkenntnisse, Entwicklungen und Therapien immer schon wie ein Schwamm aufgesaugt, ja sie ist sogar entstanden aus einer konservativen Disziplin, der rekonstruktiven Chirurgie. In den letzten Jahrzehnten wurden immer neue Therapien entwickelt, die ursprünglich für streng medizinische Indikationen zum Einsatz kamen. Mit Lasern wurden zunächst Erkrankungen der Haut behandelt, bevor ihr Potential für die Ästhetik entdeckt wurde. Botulinumtoxin A ist nach wie vor das einzige Mittel, um Spastikern ein einigerma.en erträgliches Leben zu erm.glichen. Die Orthopädie hat durch Hyaluronsäureinjektionen Gelenkprobleme beheben können, und Mesotherapie wurde bekanntlich für die Behandlung von Schmerzen entwickelt. All diese Werkzeuge sind heute zentrale Therapieoptionen für ästhetische Behandlungen.
Auch das Umfeld der Ästhetik wird von anderen Fachgruppen beeinflusst. Bromelain-Papain Enzyme werden in der Sportmedizin seit Jahrzehnten zur Behandlung von Sportverletzungen verwandt. Ihre Wirkung in der Nachbehandlung von Operationen und Entzündungen, Schwellungen, Hämatome hervorrufenden Therapien ist erst vor einiger Zeit in der Ästhetik bemerkt worden. Es lohnt also immer wieder, einen Blick auf die Entwicklungen in anderen Disziplinen zu werfen, denn diese werden auch in Zukunft die Ästhetik bereichern.
Die Entstehung eines neuen Paradigmas für die Wissenschaft
Manchem Leser mag es merkwürdig vorkommen, dass hier über Quantenmechanik geredet wird. Doch zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts wurden in der Physik Phänomene beobachtet, die zu gravierenden Auswirkungen auf die Physik, aber darüber hinaus auch auf andere Wissenschaften hatten, die bis heute anhalten. Wir haben in den anderen Artikeln bereits immer wieder auf diese Auswirkungen Bezug genommen, wenn wir davon reden, dass die neue Ästhetik prozessorientiert ist. Die Erkenntnisse in der Physik der subatomaren Teilchen wurden zum Transmissionsriemen eines neuen Wissenschaftsparadigmas.
Zunächst wurden sie von den Physikern selbst bezweifelt, was in Einsteins berühmten Satz gipfelte: „Gott würfelt nicht!“. Später jedoch musste Einstein die für sein Physikverständnis unbequemen Wahrheiten zur Kenntnis nehmen und hat diese schließlich auch akzeptiert. Um welche Wahrheiten – unbequem waren sie damals nur für das alte von Newton entwickelte mechanistische Physikmodell – handelte es sich, und warum sind diese auch für andere Wissenschaften – auch die Ästhetik – von fundamentaler Bedeutung?
Als man in der Quantenphysik die Bewegung von subatomaren Teilchen untersuchte, stie. man auf die erste unbequeme Tatsache, dass die Bewegungsrichtung abhängig vom Betrachter war. Hier wurde die Unabhängigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis vom Betrachter in Frage gestellt, sondern im Gegenteil nachgewiesen, dass der Betrachter die Richtung der Teilchen beeinflusste. In der Medizin haben wir ja mit dem Placebo Effekt ein ähnliches Phänomen, das die Beziehung zwischen Arzt und Patient neu definiert. Konnte sich der Mediziner früher als einzig handelndes Subjekt sehen, der das Objekt „Patient“ behandelte mit von ihm selbst unabhängigen Ergebnissen, ist diese Sichtweise heute nicht länger zu halten. Dazu später mehr.
Eine weitere Erkenntnis der Quantenphysik war, dass alle subatomaren Teilchen, die in unserem Universum existieren, miteinander verbunden sind, und zwar in einer nicht-zeitlichen Dimension [1]. Diese Erkenntnis hat zahlreiche Wissenschaften beeinflusst, insbesondere die Systemtheorie. Wenn alles miteinander verbunden ist, so die Schlussfolgerung, muss es zusätzlich zur Begrenzung einzelner Einheiten auch etwas Verbindendes geben, dass man mit dem Begriff des Netzwerks belegte. Um beim Menschen zu bleiben: Er kann als unabhängige Einheit gesehen werden, die begrenzt ist durch die Haut. Dieser Definition des Menschen widersprachen die Erkenntnisse unserer Sozialwissenschaften, aber auch der Naturwissenschaften, die eine vollständig andere Definition des Menschen lieferten, nämlich den Menschen als Teil eines Netzwerks und als Einheit, die zu allem anderen gehört und Teil von ihm ist. Beeindruckend ist hier die mathematische Verifizierung durch die komplexe Mathematik in der Chaostheorie (Butterfly Effekt).
Eine dritte Erkenntnis wurde mit dem Begriff der Selbstorganisation belegt. Erstmals hat der Nobelpreisträger Prigogine nachgewiesen, dass Systeme, die sich jenseits eines Gleichgewichts befinden, dazu neigen, neue Ordnungen aus sich selbst heraus herzustellen. Dieses Phänomen wurde von ihm als dissipative Struktur bezeichnet. Mittlerweile ist nachgewiesen, dass nahezu jedes dynamische System dazu neigt, sich selbst zu organisieren. Beispielsweise in der Astronomie, die sich mit der Entwicklung des Universums beschäftigt, spielt diese Erkenntnis eine nicht unerhebliche Rolle, denn durch sie wird erstmals ein Modell angeboten, das einen Schöpfer überflüssig macht. Auch in den Netzwerktheorien ist die Selbstorganisation von herausragender Bedeutung. Dynamische Systeme sind grundsätzlich immer zur Selbstorganisation fähig. Insbesondere ist diese Erkenntnis von Bedeutung, weil wir in allen Lebensbezügen mit Netzwerken, die in Netzwerken nisten, die in Netzwerken nisten konfrontiert sind [2]. So kann eine Familie ebenso als Netzwerk betrachtet werden wie eine medizinische Praxis wie die ästhetische Medizin wie die Medizin als Ganzes.
Die weitaus wichtigste Erkenntnis wurde bereits durch Newton vorbereitet, hat ihre vollständige Erklärung aber erst durch die Quantenmechanik erfahren. Bei der Untersuchung des Lichtes wurde sein Doppelcharakter erkannt, je nachdem wie man es betrachtet: es ist materiell und besteht aus Teilchen, es ist energetisch und besteht aus Wellen. Die Quantenphysik hat denselben Doppelcharakter auch bei den Elektronen der Atome nachgewiesen. Hier besteht also ein klarer Link zu unserer materiellen Welt, der ja bei den Photonen des Lichtes nicht sofort gegeben ist. Als Welle betrachtet hat Materie eine energetische Form.
Seit Jahren bereits schl.gt sich die Wissenschaft mit der Frage herum, ob oder wie Homöopathie wirkt. Das sie „irgendwie“ wirkt, wird heute nur noch von den konservativsten Kreisen geleugnet oder ihre Wirkung – hier kommt das Argument sehr gelegen – auf den Placebo Effekt zurückgeführt. Niemand kann leugnen, dass in einem homöopathischen Kügelchen kein nachweisbarer Wirkstoff mehr vorhanden ist. Ob Energie oder Information – wie behauptet wird – enthalten ist, lässt sich heute noch nicht endgültig nachweisen, obwohl die Entwicklung neuer Methoden zur Messung beispielsweise in der Biophotonik erhebliche Fortschritte macht. Logisch ist das System allerdings, denn warum sollten nicht Informationen in etwas enthalten sein, wenn man die Quantenphysik als Erklärungsmodell hinzuzieht? Auch beim Placebo Effekt wirkt ja etwas, was nicht substanziell ist, mithin ist der Placebo Effekt sogar eine Bestätigung der Quantenphysik. Letztlich muss die Medizin sich nach den quantenmechanischen Erkenntnissen unbedingt die Frage neu stellen: Was bedeutet Leben? Die Beantwortung dieser Frage kann nur auf eine Erklärung hinauslaufen, die den Doppelcharakter des Lebens berücksichtigt: Es ist materielle Substanz, aber dies reicht nicht aus – denn auch eine tote Leber ist substanziell – und es ist gleichzeitig energetisch, d.h. es ist beständigen Austauschprozessen unterworfen, die es erst zu etwas Lebendigem machen.
Zwischen den Befürwortern und Gegnern der Homöopathie tobt ein ideologischer Grabenkampf, den wir hier nicht aufgreifen wollen. Den Befürwortern ist auferlegt, eindeutige wissenschaftlich haltbare Methoden zur Beweisbarkeit zu entwickeln, den Gegnern sei ins Stammbuch geschrieben, dass nicht alles falsch sein muss, was heute noch nicht vollständig beweisbar ist. Die Akzeptanz der Akupunktur zeigt, dass medizinische Therapie durchaus in der Lage ist, mit zwei ganz unterschiedlichen medizinischen Systemen zu koexistieren, die beide „richtig“ oder „falsch“ sein können.
Abgrenzung des neuen Paradigmas von der bisherigen Wissenschaftstheorie
Die letzten Jahrhunderte wurden geprägt durch ein Wissenschaftsmodell, das uns einen immensen Erkenntnisgewinn beschert hat und das deshalb nur sehr schwer loszulassen ist. Es ist immer noch die Hauptphilosophie unseres Erkenntnisgewinns und wird nur dort erweitert, wo Erkenntnisse vorliegen, die durch es nicht mehr erklärt werden können. Gemeint ist das von Descartes entwickelte dualistische (kartesianische) Modell, das auf einer immer weiteren Reduktion von Zusammenhängen beruht und für diese letzten Entitäten die Analyse zum Erkenntnisgewinn bereithält. Ein Höhepunkt dieser Art des Herangehens an die Wirklichkeit wurde wenig später durch Newton mit seiner mechanistischen Theorie der Bewegung der Himmelskörper gesetzt, die, einem Uhrwerk gleich, ihre Bahnen durch den Kosmos zu ziehen scheinen.
Im Zusammenhang mit den Life Sciences wird hier das Modell des Menschen als Maschine zur Verfügung gestellt. Dieses Modell hat die moderne Medizin entstehen lassen und zu einer Vertiefung unseres Wissens in allen Naturwissenschaften, in der Medizin vor allem über unseren Körper, geführt. Im „Cogito, ergo sum“ Descartes wird dem Denken gegenüber der Materie Priorität eingeräumt. Aus heutiger Sicht ist dies schlichtweg falsch: Unser Körper – so alle neueren neurologischen Studien – reagiert, bevor er denkt. Wie in der Physik jedoch stößt das alte Modell augenblicklich fortwährend an seine Grenzen. In der Medizin sind die neuen Erkenntnisse in der Neurobiologie über die Prozesse, die sich in unserem Gehirn abspielen (die neuronalen Netzwerke), nicht länger dualistisch erklärbar.
Auch die Genetik gerät zunehmend in Erklärungsnot. Mit der Entschlüsselung des genetischen Codes hat man eine Tür aufgestoßen, die zu Erkenntnissen geführt hat, die ebenfalls eine prozesshafte Betrachtung erfordern. Die mit Sozialgenetik beschriebene Offenheit des genetischen Codes, die eben nicht deterministisch ist, sondern der Genaktivität eine viel flexiblere Rolle zuschreibt, ist nicht kartesianisch erklärbar. Gene können lernen und Codes verändern sich mit den gemachten Erfahrungen.
Immer dann, wenn einfache reduktionistische Methoden ein Phänomen nicht erklären können, und dies ist vor allem bei den kleinsten Einheiten wie den subatomaren Teilchen, aber auch den subzellulären Einheiten der Fall, geht es in Richtung systemtheoretische, netzwerkbezogene Erklärungen. Eine system- und netzwerkorientierte Betrachtungsweise muss zwangsläufig auch neue Definitionen für Prozesse erarbeiten, die allgemeiner Natur sind, wie beispielsweise für die Begriffe Krankheit, Gesundheit, Heilung, Psyche, Körper oder Leben. All diese Begriffe beschreiben Aspekte eines Prozesses oder Knoten eines Netzwerks, je nachdem, welche Perspektive gerade eingenommen wird.
Auswirkungen des neuen Paradigmas auf die ästhetische Medizin
Netzwerke
Wenn wir die ästhetische Praxis als Netzwerk betrachten, wer ist denn dann eigentlich Bestandteil dieses Netzwerks? Ziemlich wahrscheinlich wird jeder Leser zustimmen, dass alle Mitarbeiter einer Praxis als Netzwerkglieder zu betrachten sind. Weniger klar dürfte sein, ob auch die zu behandelnden Patienten als integrale Bestandteile des Praxisnetzwerks anzusehen sind.
Unsere Position ist dazu eindeutig: Patienten sind im neuen Paradigma nicht länger als Objekte zu betrachten, sondern als wichtige Glieder oder Knoten, als Bestandteile eines Ganzen, das sich als Praxis organisiert. Diese Zuordnung hat gravierende Auswirkungen auf alle Verhältnisse, die sich in einer Praxis selbstorganisiert gebildet haben. Insbesondere auch deshalb, weil die Patienten das dynamischste Element des Netzwerks bilden, das zu neuen Formen der Selbstorganisation führen kann.
In diesem Artikel interessieren uns insbesondere einige Netzwerkaspekte, die existentielle Bedeutung für die Zukunft jeder Praxis, aber eben auch der ästhetischen Praxis haben, nämlich das Verhältnis von Arzt und Patient, das Verhältnis von Arzt und Team sowie das Verhältnis von Team und Patient.
Wirkungen
Wenn es so ist, wie alle neueren Studien und selbst die Bundesärztekammer [3] behaupten, dass die Kommunikation und Interaktion zwischen Arzt und Patient als Placebo Effekt weitreichende Konsequenzen für einen Behandlungserfolg hat, dann müssen wir uns intensiver mit diesem Phänomen auseinandersetzen. Placebo wollen wir hier nicht im engeren Sinne als Scheinarzneimittel betrachten, sondern im erweiterten Sinne, den alle Studien und Untersuchungen nahelegen, nämlich dass der behandelnde Arzt oder besser noch die Beziehung zwischen ihm und seinem Patienten einen gravierenden Einfluss auf Vorgänge des Organismus hat, ohne überhaupt eine Behandlung mit einem Wirkstoff durchgeführt zu haben. Die Schamanen und Heiler primitiver Kulturen wussten intuitiv um diesen Zusammenhang. Dieser Einfluss zeigt ja gerade die massive Wirkung, die sich innerhalb eines Netzwerks abspielen kann. Jeder Mediziner hat selbst bereits diese Erfahrung gemacht, dass ein Patient eine besonders gute therapeutische Wirkung gezeigt hat. Innerhalb unseres Netzwerks haben wir die Abhängigkeit „objektiver“ Ergebnisse von den entsprechenden Kommunikatoren und ihren (unbewussten) Kommunikationsstrategien untersucht. Wir mussten dies tun, denn wir waren mit manchmal verwirrenden Ergebnissen konfrontiert, die unbedingt geklärt werden mussten, nämlich dass z.B. die Injektions-Lipolyse bei vielen unserer Mitglieder sehr gute Ergebnisse brachte, während einige wenige Mitglieder berichteten, dass sie gar keine oder nur schlechte Ergebnisse hatten. Zuvor hatten wir andere Ursachen bereits ausgeschlossen wie z.B. die Frage, ob alle nach denselben Protokollen behandelt hatten, denselben Wirkstoff in derselben Dosierung etc. Die beschriebenen Abweichungen konnten also nichts mit einzelnen Patienten zu tun haben, sondern mit den Verhältnissen zwischen Arzt-Team-Patienten. Diese Verhältnisse aber sind genau die Netzwerkaspekte, die über die Produktivität oder Nichtproduktivität und damit den Erfolg eines Systems entscheiden.
Ob etwas wirkt, hat also auch mit den Verhältnissen von Arzt, Team und Patienten zu tun. Damit eine Wirkung sich entfalten kann, sollte uns klar sein, dass nicht nur die eingesetzte Therapie, sondern auch psychische, kommunikative und soziale Aktivitäten notwendig sind. Die psycho-physische Einheit Mensch, die von Descartes voneinander getrennt wurde, um die rein physischen Vorgänge untersuchen zu können, hat uns deshalb mehr Potential zu bieten, als es das kartesianische Modell annimmt. Diese Trennung liefert auf vielen Untersuchungsebenen falsche oder verzerrte Ergebnisse. Eine Arzneimittelzulassung ist ja nur deshalb so schwierig, weil eine objektive Wirkung eines Wirkstoffs nachgewiesen werden muss. Dies ist nachgerade paradox, wenn als erwiesen gilt, dass diese unabhängige Wirkung nicht oder nur in sehr begrenztem Rahmen existiert.
Aber gehen wir doch näher auf die scheinbar objektive Wirkung in der Ästhetik ein, denn hier kann ja jeder sehen, ob eine Wirkung eintritt oder nicht. Wenn der Laser sein Licht auf die Haut sendet, ist dies ja eine „objektive“ Wirkung. Jeder behandelnde Mediziner aber wird sofort zustimmen, dass die Behandlungsergebnisse – auch mit denselben Energien – sich individuell stark unterscheiden, was bei klassisch „objektiven“ Effekten nicht auftreten dürfte. Dasselbe werden erfahrene Ärzte auch für BTX- oder Fillerbehandlungen einräumen, wo sehr unterschiedliche Dosierungen eingesetzt werden müssen, um bei verschiedenen Patienten mit ähnlichem anatomischen Aufbau denselben Effekt zu erzielen.
Welche Konsequenz erheischt diese Erkenntnis? Will ein Arzt großen Erfolg und gute Ergebnisse erzielen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als eine zusätzliche Tätigkeit durchzuführen: Er muss seinen Patienten sehr gut kennen- und verstehen lernen. Ohne diese Tätigkeit werden durchschnittliche Ergebnisse erzielt. Diese Aktivität steht in diametralem Gegensatz zur Passivbehandlung eines Patienten nach kartesianischem Muster.
Viele Ärzte, insbesondere solche mit viel Erfahrung, wissen intuitiv um diesen Zusammenhang und handeln dementsprechend. Durch seine Beziehungsaktivität heilt der Arzt nicht, sondern er moderiert den Selbstheilungsprozess des Patienten. Dies gilt nicht allein für die konservative Medizin, sondern auch für die Ästhetik, selbst wenn der Arzt sagen könnte, er habe die Veränderung durch sein Eingreifen herbeigeführt. Ob sich der Patient besser fühlt, was einen Heilungsprozess ja definiert nach WHO, wird durch Interaktion, nicht durch alleinige Aktion des Arztes ausgel.st, auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen mag.
ÜBERZEUGUNGEN
Eine große Rolle spielen auch eigene Überzeugungen, mit denen sich unsere Ärzte während unserer letzten Fortbildung auf Mallorca beschäftigt haben. Wenn alle, Arzt, Patient und Team von einer Therapie überzeugt sind, wird dieser Vorgang andere Ergebnisse hervorbringen, als wenn alle von einer Therapie nicht überzeugt sind, oder auch nur ein Glied des Netzwerks nicht überzeugt ist. Ein Arzt, der mit Helferinnen zusammenarbeitet, die die Überzeugung haben, dass die eingesetzte Therapie „nichts bringt“, obwohl er von ihr überzeugt ist, wird es trotz eigener positiver Überzeugung, sehr schwer haben. Mit diesem Thema hat sich die Kommunikationswissenschaft bereits vor mehr als 40 Jahren beschäftigt. Das Phänomen wurde von zahlreichen Autoren beschrieben, zuletzt von Paul Watzlawick [4] und es wurde zu Recht als „Self Fulfilling Prophecy“ oder sich selbst erfüllende Prophezeiung bezeichnet.
Ganz einfach ausgedrückt bedeutet es in unserem Zusammenhang, dass ein Arzt, der von einer Therapie nicht überzeugt ist und diese trotzdem ausführt, unbewusste Handlungen durchführen wird, die seine Überzeugung bestätigen. Überzeugungen stabilisieren sich selbst und uns, und gerade deshalb ist es sehr schwierig, sie wahrzunehmen und zu verändern. Sie dienen der Erzeugung einer Identit.t, die aber nicht die Identität des ästhetisch arbeitenden Mediziners sein muss.
Überzeugungen haben durch ihren unbewussten Handlungsaspekt starke Auswirkungen auf andere am Kommunikationsprozess Beteiligte, hier vor allem natürlich auf die Patienten. Ohne dass der Arzt jemals über seine Überzeugungen gesprochen hätte, werden diese dennoch vom Patienten wahrgenommen, weil sie in allen Handlungen des Arztes geronnen sind. Es lohnt also, will man Erfolg haben, eigene Überzeugungen wahrzunehmen und diese zu bearbeiten. Unsere ganze Serie von Artikeln sollte beispielsweise dazu dienen, Überzeugungen in Frage zu stellen oder transparent zu machen. Es ist deshalb für jeden .ästhetisch arbeitenden Mediziner notwendig, zu bestimmen, welche Therapien er von seiner Überzeugung her anbieten kann und welche nicht. Um auch hier ein Beispiel zu geben:
Die in den letzten Jahren aufkommende Intimchirurgie geht vielen Chirurgen einfach zu weit. Wenn ein solcher Eingriff gegen die eigenen Überzeugungen und ethischen Vorstellungen von einem Chirurgen durchgeführt wird, kann dies nicht gut sein. Überzeugungen spielen heute eine große Rolle in der Trauma Forschung, die gezeigt hat, dass sie Einfluss nehmen können auf die Genaktivität und sich quasi in jeder Zelle festsetzen, also physisch manifestieren. Grundüberzeugungen (z.B. „Ich bin nicht erfolgreich.“) sind deshalb nur sehr schwer zu verändern, und dieser Aspekt kann aus diesem Grunde nicht Gegenstand dieses Artikels sein.
Was aber in jedem Fall zum Thema Überzeugungen gesagt werden kann ist, dass es für den behandelnden Arzt wichtig ist, nicht nur eigene Überzeugungen zu reflektieren, sondern die Überzeugungen seiner Patienten zu erfahren. Es macht wenig Sinn, gegen die Überzeugung eines Patienten eine Behandlung durchzuführen. Dies sind dann meist die Fälle von Unzufriedenheit oder Konflikten mit der Praxis, und jeder kennt diese Fälle.
Ein wenig mehr Aufmerksamkeit in der Beratung zu Behandlungen, ob der Patient Zeichen von Nichtübereinstimmung zeigt, obwohl er scheinbar zustimmt, kann der ästhetischen Praxis viel Ungemach und zusätzliche Arbeit ersparen. Innere Zerrissenheit – „Der Arzt ist so nett und ich kann deshalb nicht nein sagen, obwohl ich eigentlich müsste.“ – kann dem Patienten nicht vorgeworfen werden. Sie bedeutet oft, dass der Patient keinen Konflikt heraufbeschwören möchte. Ihm das Gefühl zu geben, dass seine widerstreitenden Gefühle beim behandelnden Arzt oder anderen Mitgliedern des Teams gut aufgehoben sind, erleichtert eine offene Kommunikation und diese führt zu besserer Patientenselektion und höherer Akzeptanz. Von erfahrenen Ästhetikern hören wir immer wieder den Satz, dass es besser ist und häufig zu mehr Empfehlungen führt, wenn sie Patienten ablehnen. Eine wohlwollende Ablehnung demonstriert, dass man die Ästhetik und jeden einzelnen Patienten Ernst nimmt und nicht nach dem Verdienst schielt, was wichtig ist für den praktizierenden ästhetischen Arzt im Verhältnis zu seinen Patienten.
Ein jeder Knoten eines Netzwerks ist gleich wichtig. Zwar spielt die Beziehung von Arzt und Patient eine übergeordnete Rolle, dies bedeutet jedoch nicht, dass die Verhältnisse einzelner Mitglieder des Teams zu einzelnen Patienten nicht genauso wichtig sind. Eine sorgfältige Auswahl der Personen, die innerhalb einer Praxis für die Ästhetik zuständig sind, sollte unbedingt berücksichtigen, welches Verhältnis die Mitarbeiter zur Ästhetik haben. Wenn eine negative Disposition vorliegt, kann diese nur schwer verändert werden, was übrigens auch nicht Aufgabe des Arztes sein kann.
Schlussfolgerungen
Das neue Paradigma der Wissenschaft wird sich in den kommenden Jahrzehnten über alle Fachdisziplinen ausdehnen müssen, weil Prozesse, Verbindungen bzw. Beziehungen und Verhältnisse zur Vertiefung neuer Erkenntnisse in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Die neue Wissenschaftstheorie wird ihre Erkenntnisse vor allem über die Betrachtung von Prozessen und den diesen zugrunde liegenden Netzwerken erweitern. Die ästhetische Medizin kann von diesem neuen Paradigma profitieren, ja sie kann sich in ihrer Außenseiterrolle sogar besonders dadurch profilieren, dass sie heute bereits umsetzt, was in einigen Jahrzehnten auf jede Arztpraxis oder Klinik oder Universit.t zukommen wird, die erfolgreich arbeiten will. Insbesondere spielen dort Prozesse eine Rolle, wo Menschen miteinander interagieren und kommunizieren.
Hier wird das neue Paradigma Möglichkeiten eröffnen, die ästhetisch arbeitenden Ärzten eine bessere Patienten- und Teamselektion eröffnen und zugleich die Verhältnisse so gestalten, dass offene Kommunikation von gleichberechtigten Teilen eines Systems oder Knoten eines Netzwerks die Erfolgsquote ästhetischer Behandlungen steigern wird.
Korrespondenz-Adresse
Dipl.-Ing. Dirk Brandl
Mühlenstraße 19
D-48317 Drensteinfurt
brandl@network-globalhealth.com
Literatur
1. Gribbin J (2004) Auf der Suche nach Schrödingers Katze. München: Piper
2. Capra F (1999) Lebensnetz: ein neues Verständnis der lebendigen Welt.
München: Knaur-Taschenbuch-Verlag
3. Placebo in der Medizin – Eine Stellungnahme – Herausgegeben von der Bundesärztekammer auf Empfehlung ihres Wissenschaftlichen Beirats.
Überarbeitete Fassung vom Vorstand der Bundesärztekammer in seiner Sitzung vom 27.08.2010 zur Kenntnis genommen. Ursprüngliche zustimmende
Kenntnisnahme durch den Vorstand der Bundesärztekammer in seiner Sitzung vom 25.03.2010.
4. Watzlawick P (1988) Anleitung zum Unglücklichsein. München: Piper